Erinnerung
Willst du immer weiterschweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Mit dem Schweifen ist das so eine Sache. Gibt man bei Google diesen Begriff ein, kommt folgende Definition: »ziellos [durch die Gegend] ziehen, wandern, streifen ... ›durch die Wälder, die Stadt schweifen‹«.
Ist es doch eine Suche, obwohl die Bewegung ohne Ziel ist?
1789 geschrieben, 1827 veröffentlicht, wirkt das Gedicht wie ein Kommentar zur Novelle ›Aus dem Leben eines Taugenichts‹ von Joseph von Eichendorff von 1822, die 1826 veröffentlicht wurde. Darin geht es um eine idealisierte Figur, die durch ihr Wandern die Sehnsucht nach einem einfachen, naturverbundenen und freien Leben verkörpert, als Gegenentwurf zur entstehenden modernen Welt. Der Taugenichts lehnt die bürgerlichen Erwartungen an Nützlichkeit, Arbeit und sozialen Aufstieg ab und wird deshalb von seinem Vater, einem Müller, als solcher bezeichnet.
Er schweift also ziellos durch die Welt, auf der Suche nach dem Glück, das er am Ende seiner Reise in seiner Liebe Aurelie auch findet. Entscheidend ist dabei die Ziellosigkeit, auch wenn er am Ende seiner Reise – durch Gottes Fügung – sein Ziel erreicht.
So ziellos kommen mir heute, 20 Jahre, nachdem ich mit der Erforschung des AtemtypTaichi begonnen hatte, die Taichi-Adepten vor. Sie schweifen umher auf der Suche nach dem Tai-Chi-Glück, also auf der Suche nach der inneren Kraft, die ihnen Tai Chi verspricht – entweder verstanden als Erwerb der Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen, authentisch zu sein und aus sich selbst heraus Energie zu schöpfen, oder, gezielter, als reale Kraft, die es ermöglicht, einen Angreifer auf Distanz zu halten und ihn zu entwurzeln, ohne ihn zu verletzen. Diese Fähigkeit machte Tai Chi im 19. Jh. in China berühmt.
Manchmal, wenn ich Videos ansehe, die Tai-Chi-Übende zeigen, erschrecke ich über ihre fehlerhafte Körperhaltung und ihre Bewegungen, die dennoch reichlich unterfüttert mit Zitaten aus den klassischen Tai-Chi-Texten daherkommen, um die Authentizität der eigenen Praxis zu belegen. Das gilt auch für den Einsatz der ›inneren Kraft‹, die am willigen Partner demonstriert wird – aber meistens äußere Kraft ist, weil sie dem anderen Schmerz zufügt … Sorry, das ist kein Tai Chi im Stil der alten Meister, auch wenn diese als Kronzeugen aufgerufen werden.
Es gibt im Tai Chi, den Aussagen der alten Meister zufolge, zwei körperliche Merkmale, die beachtet werden müssen, um zu innerer Kraft zu gelangen: einmal das »Heben des Rückens und das Zurückhalten der Brust« und zum anderen die, den »Damm hängen zu lassen«.
Den Rücken heben

Frieder Anders, Das Qi verwurzeln. Kristkeitz 2020.
»Den Rücken heben« bedeutet, dass er rund wird und die Schulterblätter am Brustkorb anliegen: quasi unbewegt bei allen Armbewegungen dort bleiben.
Auf der Vorderseite des Rumpfes bewirkt das »Heben des Rückens«, dass die Brust »zurückgehalten wird und die Schultern leicht nach vorn fallen«. Dadurch sinken die ›Schulternester‹ (unterhalb der Schlüsselbeine) ein: Hier tritt der Lungenmeridian an die Körperoberfläche, der im Übrigen zu 80 Prozent gleich verläuft wie die ›Daumenlinie‹ der Faszien, die einen direkten mechanischen Einfluss auf die Lungen hat; ein wichtiges Merkmal, das beim Einsatz der inneren Kraft berücksichtigt werden muss.
Das Herumschwenken der Arme in den Videos – besonders in denen der Schüler/innen der ITCCA, die die Schultern aus dieser Position herausbewegen – ist schlicht und einfach falsch, weil dadurch das Brustbein ständig angehoben, also eben nicht »zurückgehalten« wird.
Genauso falsch ist es aber, die Schultern ständig hängen zu lassen, weil dadurch die Oberarme zu eng an den Körper kommen und den Austritt des Qi in den Schulternestern blockieren. Das ist das andere Extrem: das Brustbein hängt, dadurch kann keine Weite entstehen: »Beim Zurückhalten der Brust hat die Brust ein weites, befreiendes Gefühl.« (Großes Wörterbuch der chinesischen Kampfkünste). Dieses Gefühl entsteht, weil die Position des Brustbeins dem Zwerchfell freien Raum lässt, es weder nach oben verspannt noch nach unten beengt. Diese Variante ist Kennzeichen der Yang-Stil-Variante nach Cheng Man’ching (meine ersten fünf Tai -Chi-Jahre lassen grüßen).

Damm hängen lassen
Um zu verstehen, was es bedeutet, »den Damm hängen zu lassen«, muss man den Begriff des Kua (oder Kwa) hinzuziehen.
KUA ![]()
Kua bezeichnet den Bereich, der sich von den Leistenfalten (vordere Hüfte, wo Bein und Körper aufeinandertreffen) bis zum Beckenkamm erstreckt. Er umfasst die Hüftgelenke, den Iliopsoas und die Adduktoren sowie das Kreuzbein und den Damm.

https://www.lebambou.org/article-les-kua-c-est-quoi-instantane-d-un-stage-67033080.html
Wenn der Damm hängt, berühren sich Bein und Körper nicht: das (oder der) Kua ist geöffnet. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei die Hüftgelenke ein, deren korrekte Position, genau wie die der Schultergelenke, den Atem beeinflusst.
Das Verständnis davon ist unter den Tai-Chi-Adepten jedoch weitgefächert; offenbar der komplexen Bedeutung des Kua geschuldet. Schaut man auch hierzu die Videos an, die das jeweilige Verständnis illustrieren sollen, findet man die abenteuerlichsten Varianten, die alle eins verfehlen: nämlich die Verwurzelung. Das Kua hat die Aufgabe, Oberkörper und Beine zu verbinden, damit Verwurzelung entsteht; es macht keinen Sinn, ohne Bezug zum Boden daran ›herumzuöffnen‹.
Und weil das Schreiben über diese Themen nicht viel bringt, bereite ich ein Video vor, das mein Verständnis dieses Themas zeigen soll und es auf den Punkt bringt. Besser: auf die Punkte, denn es gibt zwei Wege des Verstehens, nämlich einen für den Atemtyp Einatmer und einen für den Atemtyp Ausatmer.
Womit ich den Kreis, mit dem Zitat des alten Meisters Goethe, schließen kann: Warum in die Ferne schweifen, und verschiedene Varianten ausprobieren, wenn das Gute so nahe liegt? Das Naheliegende ist, dass nur durch das Erforschen des Tai Chi im eigenen Atemtyp das eigene ›Gute‹ in sich selbst gefunden werden kann, es also keine (ziellose) Wanderung durch die (Tai-Chi-)Welt braucht, um darin glücklich zu werden. Aber auch kein zielfixiertes Festhalten an Vorbildern, das einen von dem abhält, was wirklich zählt: die Suche bei sich selbst.
Daher nochmals der Hinweis auf meinen Artikel von 2008, als ich mir gerade, nach fünf Jahren theoretischer und praktischer Beschäftigung mit dem Thema, Klarheit verschafft hatte:
Die Bedeutung des individuellen Atemtyps im Taijiquan
https://www.taijiakademie.de/files/artikelatemtyptaiji_neu_2.pdf
Und diese Klarheit ist heute, nach 20 Jahren Beschäftigung mit dem Thema, immer größer und deutlicher geworden.
