Die Zeiten, in denen Taiji ein zugkräftiges Thema war, scheinen vorbei zu sein. Nach einem Artikel in der FR über die Eröffnung meiner Schule 1980 in Frankfurt-Nied riefen 60, 70 Leute an, die sich dafür interessierten - die dann zwar natürlich nicht alle Schüler wurden, aber es war etwas aufregend Neues. Und später, als ich für Meister Chu, meinen langjährigen Lehrer, den Verband ITCCA in Deutschland leitete, gab es noch in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts keine „Nachwuchssorgen“; da kamen schon mal 30 Leute in eine Einführungsveranstaltung und nicht wenige buchten anschließend einen Kurs, aber nicht wenige von ihnen gingen danach auch wieder. Offenbar wirkten der exotische Reiz des Asiatischen, der Meister-Bonus und die strengen Regeln, die in der ITCCA für das Taiji galten, anziehend: ein Weg, der innere Ruhe und Kraft ohne Aktionismus versprach. Aber „Gelassenheit“, mit dem Prinzip des „wu wei“ einst auf die Taiji-Fahne geschrieben, zieht offenbar nicht mehr: stattdessen wird alles, was verspricht, durch straffes „Selbstmanagement“ einen Top-Body selbst formen zu können, hochgehalten.
Taiji glänze nicht mehr: das war die Begründung eines PR-Beraters vor einigen Jahren für seine Absage auf meine Anfrage, für mich tätig zu werden. Und das stimmt. Gab es bei Hugendubel, Frankfurt, vor etlichen Jahren noch über 30 Taiji-Bücher, so sind es heute überschaubare vier oder fünf, die dort ihr Dasein fristen angesichts einer Überzahl von Yoga-Büchern, und auch die Qualität entspricht der kümmerlichen Zahl.
Ich erkläre mir das Darniederliegen von Taiji so: Die Möglichkeiten der Taiji-Bewegungen für die Entwicklung von innerer Kraft und „kluger Gelassenheit“ werden nicht erkannt. Und das führt zum Pseudoergebnis der „unklugen Gelassenheit“, die aber tatsächlich – und wie ich finde, zu recht – niemand mehr recht will, weil das Exotische daran seinen Reiz verloren hat.
Was bedeutet das? Wahre oder kluge Gelassenheit, so schreibt Thomas Strässle in seinem überaus lesenswerten Buch Gelassenheit, Über eine andere Haltung zu Welt (Hanser 2013) ist „ein Zustand, in dem man sich im strömenden Leben bewegt, in dem man das Leben durch sich hindurchströmen lässt. Der wahrhaft gelassene Mensch setzt das Sein über das geschäftige Tun. Sein über Tun: Das heißt nun nicht, dass Gelassenheit mit Tatenlosigkeit zu verwechseln wäre oder es zu ihrer Erlangung keiner Anstrengung bedürfte. Das Gegenteil ist der Fall: Sie erfordert den ganzen Menschen, jede Fiber seines Wesens.“
So verstehe ich das daoistische Prinzip des wu wei, das mit „das Nichtun tun“ wiedergegeben werden kann und das ich im Inneren Taiji verwirklicht sehe: den ganzen Menschen erfordernd und jede Fiber seines Wesens beanspruchend. Geschieht das nicht und verwechselt man Taiji mit dem Weg des geringsten Widerstandes, bloßem Sich-Treiben-lassen mit schlaffen Bewegungen, wie ich es in meinen Taiji-Anfangsjahren auch getan habe, so entstehen anstelle der klugen Gelassenheit „unkluge Gelassenheiten“, nämlich Antriebslosigkeit und Teilnahmslosigkeit. Noch einmal Strässle: “Metaphorisch sind sie Verhaltensformen der Kälte: In ihnen ist entweder das innere Feuer erloschen oder die Wärme des Mitgefühls abgekühlt. Man kann sie deshalb Formen der kalten Gelassenheit nennen.“
Inneres Feuer und Mitgefühl – das sind Themen für Inneres Taiji. Inneres Feuer, wie es in den Fotos der alten Taiji-Meister deutlich an ihren Augen zu erkennen ist, entsteht eben nicht durch Bewegungen, die durch ein Konzept bestimmt werden, welches Gelassenheit als psychischen Harmonie-Dauerzustand begreift und diesen durch antriebslose Bewegungen herbeizuführen sucht. Strässle: „Einen immerwährenden Zustand vollkommener Gelassenheit, der ohne fortwährendes Lassen auskäme, gibt es nicht – zumindest nicht in diesem irdischen Leben.“ Ich glaube, diese Antriebs- bzw. Kraftlosigkeit, wie sie sich in den aktuellen Taiji-Büchern bei Hugendubel zeigt, ist der wahre Grund, dass Taiji heute nicht mehr „glänzt“ und so viel Boden gegenüber dem Yoga-Power-Hype verloren hat. Dieses äußere Taiji verwechselt „wu wei“ tatsächlich mit „Nichttun“. Es setzt das Sein zwar über das Tun – aber als Tatenlosigkeit, während die westlichen Formen des Yoga munter „das Tun über das Sein“ setzen und als Aktionismus missverstehen, der so gut in unsere betriebsame Welt passt.
Und Mitgefühl? Das ist ein anderes Thema: zu zeigen, wie durch die Übung des Inneren Taiji die „Wärme des Mitgefühls“ erweckt werden kann. Der Titel dazu wäre „Freundlichkeit“. Ebenso das Thema „Antriebslosigkeit“ resp. „Antrieb im Inneren Taiji“ ….Fortsetzung folgt.