Halbwahrheiten

10. Mai 2016 | Frieder Anders | Halbwahrheiten

Ballengang bei einem Kleinkind

In der Taiji Akademie veranstalten wir  regelmäßig Vorträge im Rahmen der Lehrer- und Kursleiterausbildung, die auch  den verschiedenen Spielarten der „Körperarbeit“  gewidmet sind: Feldenkrais, Rolfing, Alexandertechnik, Spiraldynamik. Da wir Taiji auf Grundlage der „Atemtyplehre“ praktizieren, erspüren und begreifen wir Körperarbeit im Allgemeinen über das Paradigma der Prägung durch den individuellen Atemtyp. Spannend ist es daher immer wieder zu sehen, wie jede Methode vom Atemtyp des Begründers geprägt wird. So waren die Genannten allesamt Ausatmer/innen: Moshe Feldenkrais und Ida Rolf, Alexander (nach seinem Bewegungsverständnis zu urteilen) sowie Christian Larsen, der Begründer der Spiraldynamik.

Jeder dieser Vorträge bringt Neues für alle Beteiligten, nicht zuletzt durch das Hinterfragen der vorgetragenen Inhalte und  angestrebten Ergebnisse. So stand im Rolfing-Vortrag die Ideallinie der körperlichen Aufrichtung zur Diskussion, die im Taiji der Ausrichtung zwischen Erde und Himmel entspricht. Allerdings entspricht diese Ideallinie im Rolfing der eines Ausatmers. Die Theorie kann mit Hilfe der Atemtypen erweitert werden. Wenn ein offener Austausch zwischen Referent/in und Publikum zustande kommt, sind diese Vorträge ausgesprochen fruchtbar und lehrreich.

Nun ist mir vor einigen Monaten ein anderes Beispiel ins Haus geflattert. Der Newsletter des „Zentrums der Gesundheit“ berichtet von einem deutschen Arzt, Dr. Greb, Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, der sein Leben lang den Ballengang erforscht hat und ihn als die einzig richtige, vermeintlich  angeborene Art des Gehens propagiert. Den Fersengang hingegen verdammt er wie der Teufel das Weihwasser. Aus Sicht der Atemtyplehre ist das eine Wahrheit – für die Ausatmer/innen. Gleichwohl jedoch nur eine halbe, denn  Ausatmer gehen ballenbetont, Einatmer hingegen fersenbetont. Das lässt sich nachweisen durch Beobachtung von Kindern, die ihre ersten Schritte  machen. (Anzuschauen demnächst  in unserem Filmarchiv)

Meines Erachtens zeigt der Bericht über den Fersengang eine typische Kombination aus großer Sachkenntnis und einer gewissen Blindheit: Das, was ins Bild passt – und die eigenen Thesen auch eindeutig bestätigt – wird gesehen. Das ebenfalls empirisch auftretende Gegenteilige aber nicht. Daher schreibe ich hier einen offenen Brief. Also:

Sehr geehrter Herr Dr. Greb,

sehr geehrte Redaktion des „Zentrums der Gesundheit“,

im Newsletter von Ende September 2015 schreiben Sie ausführlich über den Ballengang mit der Quintessenz, die dem Artikel als Motto vorangestellt wird:

Die Mehrheit der Bevölkerung geht im Fersengang – und wird krank davon. Unsere ursprüngliche Gehweise ist jedoch der Ballengang.

Das halte ich für eine irreführende und potenziell gesundheitsgefährdende Behauptung, der ich auf Grund meiner  Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren Taiji-Unterricht widersprechen möchte. Meine Einlassung:

Die Hälfte der Menschen geht eher ballenbetont, die andere Hälfte fersenbetont. Ausatmer verlagern ihr Gewicht rasch nach dem Aufsetzen der Ferse auf den Vorderfuß, Einatmer betonen den Fersenkontakt und rollen den Fuß ab.

Sie, sehr geehrter Herr Dr. Greb, haben sicherlich  am eigenen Leibe Ihre zutreffenden Erfahrungen gemacht, Sie forschen, um sie zu objektivieren – doch Sie verallgemeinern m.E. zu Unrecht Ihre Erfahrungen. Das halte ich für gravierend, da auf Basis der Lehre von den Atemtypen  die These gilt: Vom Ballengang wird die andere Hälfte der Menschen krank. Insofern bitte ich Sie, die nachfolgenden Thesen in Theorie und Praxis zu überprüfen.

Offenbar kennen Sie, sehr geehrter Herr Dr. Greb, die Lehre von den Atemtypen noch nicht. Ich möchte Sie einladen, diese einzubeziehen. Dann ergibt sich, dass das, was Sie beschreiben,  für den Ausatmer sehr wohl gilt – wenn auch für meinen Geschmack etwas sehr zugespitzt, indem Sie jeglichen Fersenkontakt ablehnen. Aufgrund Ihres Geburtsdatums habe ich mir erlaubt, Ihren Atemtyp zu berechnen. Sie sind demnach  zu 100% solar, also ein Ausatmer. Ich beglückwünsche Sie zu dieser extremen, äußerst seltenen und somit sehr eindeutigen Prägung. Ihre Thesen sind in sich schlüssig und zeigen mithin, dass Sie selbst ein sehr eindeutiges Körpergefühl haben. Insofern spricht alles dafür, dass sich diese extreme Prägung auch extrem äußert.

Somit sind Ihre Darlegungen äußerst hilfreich für das Verständnis des Ausatmer-Ganges – nur gilt es eben exklusiv nur für diesen Atemtyp. Genauso hilfreich und in sich schlüssig, wie es die Methoden der oben genannten Pioniere der Körperarbeit sind. Die Krux dabei ist aber nur, dass alle (soweit mir bekannt) ihren eigenen unerkannten Atemtyp verabsolutieren und verständlicherweise als das einzig Richtige empfinden. Allerdings geben sie damit eine subjektive Wahrheit als objektive aus. Und da gibt es Aufklärungsbedarf, zu dem ich meinen Teil beitragen möchte mit meiner Erfahrung und Überzeugung, die ich den letzten 15 Jahren meiner Arbeit gewonnen habe.

Es gibt immer ZWEI Wahrheiten, wie ein Mensch sich im Schwerefeld ausrichtet, wie er liegt, sitzt, geht, läuft, Taiji betreibt und vieles mehr.

Ich würde mich freuen, wenn dieser Brief Sie, sehr geehrter Herr Dr. Greb, zum Nachdenken und vielleicht zu einem Austausch mit der Taiji Akademie anregen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass die Atemtyplehre für Sie ein spannender und bereichernder Ansatz ist, der helfen kann, Ihre Thesen auf die „andere Hälfte“ der Menschen zu verallgemeinern. Ich bin gerne bereit, persönlichen Kontakt aufzunehmen.

Ihnen, sehr geehrtes Redaktionsteam, würde ich vorschlagen, solche Meinungsäußerungen vorsichtiger zu präsentieren, eben als Meinung und nicht als Dogma, zumal die Aussagen des Herrn Dr. Greb nicht allgemein von der Medizin geteilt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Frieder Anders

Taiji-Großmeister der Yang-Tradition

Info über Dr. Greb: http://www.godo-impuls.de

http://www.zentrum-der-gesundheit.de