Corona, die zweite ...

23. Juni 2020 | Frieder Anders | Corona, die zweite ...

»Es gibt keine ›Feindschaft‹ zwischen körperfremden und körpereigenen Substanzen. Es gibt wertfreie biologische Reaktionen zwischen verschiedenen biochemischen Substanzen. Mehr nicht. Feindschaft ist eine bewertete Beziehung.« (Paul U. Unschuld)

Sei gegrüßt – oder: Verschwinde, bevor ich dich vernichte!

Das Innere Taiji, wie wir es praktizieren, war im 19. Jahrhundert die berühmteste Kampfkunst in China. Ihr Wesen war und ist, einen Angreifer nicht mit Gewalt abzuwehren, sondern den Angriff mit Kreisbewegungen zu neutralisieren und auf den Urheber zurückzulenken. Der Angreifer wird entwurzelt, verliert sein Gleichgewicht, und die aggressive Energie des Angriffs verpufft, ohne Schaden anrichten zu können.

Um den Angriff gegen den Angreifer selbst wenden zu können, ist es nötig, den Angriff ein Stück weit zuzulassen – und ihn nicht völlig abzuwehren. In den Partnerübungen, die man als Vorstufe zur Kampfkunst betrachten kann, sind ein oder beide Arme immer im Kontakt mit den Armen des Anderen. Auf diese Weise lernt man, die Absichten des Gegners zu erspüren, seinen Bewegungen mit fortschreitender Übung zuvorzukommen und seine Krafteinwirkungen zu neutralisieren, bevor sie eine schädliche Wirkung entfalten können.

Die so genannten äußeren Kampfkünste bilden hingegen den Körper selbst als Waffe aus. Sie trainieren Auge, Faust und Fuß, um fähig zu werden, durch Kraft, Geschwindigkeit und ausgefeilte Techniken den Angreifer außer Gefecht zu setzen und seine Kraft oder ihn selbst zu zerstören.

Diese Haltung wird von Hass genährt. Man glaubt, da sei jemand, der mir Böses will, ein Feind, den ich hassen muss – und diesen Feind soll ich angreifen und unschädlich machen. Hass geht auf das Fremde, das meine Ziele behindert – sei es nun der innere Feind, alles, was ich an mir nicht liebe, weil es nicht in mein idealisiertes Selbstbild passt, oder sei es der äußere Feind, das Fremde am anderen, auf das ich alles Negative projizieren kann. Eine solche äußere Kampfkunst, die von Hass geleitet wird, bekämpft den Gegner wie einen Feind, der ausgerottet werden soll.

Die Haltung der inneren Kampfkünste wird nicht von diesem Hass geleitet. Taiji zerstört nicht den Gegner, sondern schaut zunächst auf den Angegriffenen selbst. Wie kann ich meinen Schutzraum stark und weit machen? Wie kann ich ihn bewahren? Wo sind meine Grenzen und wo beginnen die Grenzen des Anderen? Das heißt im innerem Taiji »Einklang mit der Natur«. Die Natur in ihrem Wirken ist etwas, das ich mir nicht einfach zurechtschustern kann.

Die andere Haltung zur Welt geht sofort auf alles los, was mich anzugreifen scheint. Das Ich verliert dabei seine eigene Integrität. Dann bekämpfe ich Gewalt mit Gegengewalt und richte Schaden an – vielleicht verletze ich mich am Ende sogar selbst. Wer alles Bedrohliche nur mit Hass bekämpft, zerstört schlussendlich sich selbst, und nicht nur den Feind.

Es gibt sicher noch eine dritte Haltung zur Welt, neben dem Kampf gegen den verhassten Feind und der Umlenkung des Angriffs durch eine Stärkung des eigenen Schutzraums. Diese dritte Variante ist die ›Vogel Strauß-Variante‹: Ich stecke den Kopf in den Sand und gehe allen Konflikten aus dem Weg. Ein solches, eher durch Naivität bestimmtes Verhalten, ist bei manchen Taiji-Praktizierenden zwar auch verbreitet, aber das sanfte Ablenken eines Pseudo-Angriffs ist einem realen Angriff nicht gewachsen. Deswegen beachte ich sie hier auch nicht weiter.

Auch in der Einstellung zu Krankheit und Gesundheit zeigen sich diese beiden unterschiedlichen Haltungen zu einem Gegner, der aggressive Kampf gegen ihn oder die sanfte Neutralisierung seiner Kraft. Über Jahrhunderte lassen sich diese Prinzipien auch in der Heilkunde und Medizin wiederfinden, wie der Sinologe und Medizinhistoriker Paul U. Unschuld in seinem überaus lesenswerten Buch ›Was ist Medizin?‹ (C.H.Beck, München 2003) dargelegt hat. Er vergleicht östliche und westliche Heilkunst und unterscheidet hierbei zwei Prinzipien, nach denen die Medizin handelt. »Die eine Grundvorstellung sieht in der Gesellschaft, in der Natur, im menschlichen Körper eine Gesetzmäßigkeit. Wer den Gesetzen folgt, der überlebt, bleibt gesund. (...) Aufgabe der Medizin ist es, den Menschen vor der Unerbittlichkeit der Strafen der Natur zu schützen.« (a.a.O, S. 249). Ein Verstoß gegen die ›Regeln‹ der Natur schafft also Krankheit und Tod.

Die zweite Grundvorstellung denkt im Kriegsmodell: »Man hat Freunde, man hat auch Feinde. Vor den Feinden muss man sich hüten. Sie können einem schaden. (...) Der einzelne Organismus fällt manchmal zusammen, blutet, muss vielleicht das Leben lassen, ohne dass ein sichtbarer Feind zugeschlagen hat. Dann muss es eben ein unsichtbarer kleiner Feind sein. Die Namen für den Kleinstfeind, der so großes Unheil anrichten kann, sind unterschiedlich gewesen in China und in Europa im Lauf der Jahrhunderte (...) aber nach Robert Koch war ganz Europa überzeugt.« (a.a.O. S. 250) Das Virus ist der Name für diesen kleinsten aller möglichen Feinde.

Paul Unschuld will damit nicht die Wirklichkeit von Viren leugnen oder die Wirklichkeit von Immunreaktionen auf Viren – entscheidend ist, dass man diese Reaktionen nicht als Kampf deutet: »Es gibt keine ›Feindschaft‹ zwischen körperfremden und körpereigenen Substanzen. Es gibt wertfreie biologische Reaktionen zwischen verschiedenen biochemischen Substanzen. Mehr nicht. Feindschaft ist eine bewertete Beziehung.« (a.a.O. S. 251 ff.) Eine Medizin, die Viren als Feinde betrachtet, setzt das bloße Überleben um jeden Preis als ihren höchsten Wert und nimmt damit eine kulturelle Deutung vor: Hauptsache, so lange wie möglich leben!

Die andere Art der Medizin bekämpft keine Feinde. Sie versucht stattdessen, Übertretungen gegen die Gesetze der Natur wieder dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie die eigentlich ›gute Natur‹ des Organismus, seine Selbstheilungskräfte stärkt und wiederherstellt. Und dazu muss das Virus angenommen werden!

Prof. Dr. Birger P. Priddat, ein deutscher Ökonom und Philosoph, meint hierzu: »Wir werden uns an das Virus anpassen, nicht umgekehrt. Das Virus und seine pandemische Ausbreitung sind natürliche Tatsachen – das Virus ist Natur! –, mit denen zu leben wir lernen werden. Die Metapher von der Bekämpfung des Virus täuscht darüber hinweg, dass es nicht besiegt werden kann; nur ein anderer Umgang miteinander in sozialen Gesellungen wird seine Ausbreitung mindern oder sehr einschränken. Unser Verhalten werden sich anpassen müssen: sozial distanzierter, Vermeidung von hot spots, die gesamte Gesellungskultur steht auf dem Prüfstand. Das Mensch-Natur-Verhältnis, das wir bisher zu Wäldern, Walen und Fröschen neu definieren wollten, wird auch die Anerkennung der Viren umfassen. Erst wenn wir lernen, mit dem Virus zu leben, sind wir ›im Einklang mit der Natur‹. Und das bedeutet, dass wir unser soziales Verhalten, unsere kulturellen Muster, anpassen. Ich überlege mir, um die Idee eines Beispiels zu geben, ob ich jemals noch jemandem noch die Hand geben werde. Man kann auch anders grüßen«.

Im Taiji begrüßt man sich mit einer Verneigung, in anderen Kampfkünsten kommen bestimmte Handhaltungen, Mudras –Namaste! – hinzu. Möglichkeiten gibt es da genug. Hallo Panda!

Ein Nachtrag: Das richtige Grüßen ist nicht schwer, doch manchmal liegen die Probleme tiefer: Wenn wir der Natur den Schutzraum nehmen, nimmt sie uns unseren Schutzraum. Auch das ist wie eine Partnerübung im Taiji. Hierzu nochmal Prof. Priddat:

»Die Latenz des Ausbruchs neuer Virenepidemien liegt an unserer postindustriellen Gesellschaft: wir leben besser als je zuvor, haben Überbevölkerungen, die wesentlich in ungeheuer ausgewachsenen Städten leben, zu absolut unhygienischen Bedingungen, in hoher Dichte. Neben der Mobilität des weltweiten Verkehrs. Nicht das Vorkommen solcher Viren ist entscheidend, sondern die soziale Dichte, die die Übertragbarkeit erst herstellt, um dann um die Welt zu rasen. Das sind die Klimabedingungen der Virenatmosphären«.

https://www.xing.com/news/insiders/articles/das-virus-besiegen-heisst-mit-ihm-zu-leben-