Lass Arme und Beine immer rund,
dann wirst du dich nie verausgaben.
Taiji-Klassiker
Ab und zu geistern Artikel durchs Internet, die Menschen dazu anleiten, besser zu atmen. Leider verbreiten sie immer wieder die gleichen Klischees übers Atmen. So im Artikel ›Wie Sie mehr Luft bekommen beim Atmen‹ vom Ratgeber MDR am 10. Juni 2021. Der Atemvorgang wird dort einseitig als eine körperliche Mechanik verstanden, die mit dem Willen beeinflusst werden kann. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Die Atmung geschieht automatisch, sie ist eine autonome Grundfunktion des menschlichen Körpers. Im Hirnstamm liegt das Atemzentrum. Von dort aus werden – unbewusst und wie von selbst – bei jedem Atemzug die Muskeln, Organe und jede einzelne Zelle mit frischem Sauerstoff versorgt. Nur dank dieses Automatismus können wir auch dann weiteratmen (und weiterleben), wenn wir uns in unbewussten Zuständen befinden, etwa im Schlaf – oder auch im Alltag: Wer ist sich seines Atems schon bewusst?
Die Atmung ist die einzige automatisch gesteuerte Grundfunktion unseres Körpers, die wir zumindest zeitweise willentlich beeinflussen können. Das macht den Einsatz von Atemtechniken überhaupt erst möglich. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, denn es ist allzu verlockend, diesen Einfluss des Willens zu überschätzen. Die Atmung ist kein mechanischer Teil einer Körper-Maschine, über die wir frei mit unserem Willen verfügen können. Es gibt beim Atmen nämlich auch das Phänomen der Selbst-Regulierung, das man nicht vergessen darf. Die Vorschläge des Artikels beim MDR sind auch deswegen so klischeehaft, weil so getan wird, als sei das Atmen nichts anderes als ein mechanisches Aufpumpen des Lungensacks, der irgendwie an der Wirbelsäule hängt, durch sportliche Bewegungen.
Schön tief in den Bauch atmen?
Die Tipps des Artikels sind für einen Taiji-Meister ein Graus. Zunächst die Haltung: Brust raus, Schultern zurück und die Arme hoch oder nach hinten – eine solche steife Haltung mit angezogenen Schulterblättern verengt den Atemraum und hilft gerade nicht beim freien Luftholen.
Und natürlich sollen die ›Beratenen‹ immer schön tief in den Bauch einatmen und genauso bewusst wieder alles herausschnaufen. Dass der Körper – je nach Atemtyp – von selbst wieder die Luft entlässt (Einatmer) oder einzieht (Ausatmer), davon haben die Autoren nicht den blassesten Schimmer. Ganz nebenbei: Wie man mit herausgedrücker Brust und zurückgezogenen Schultern überhaupt in den Bauch atmen können soll, bleibt mir ein Rätsel. Und gesund ist es auch nicht für jeden Atemtyp.
Flankenatmung ist den Autoren immerhin bekannt, doch von der Zwerchfellatmung keine Spur – obwohl doch das Zwerchfell eigentlich die Hauptarbeit beim Atmen erledigt. Das Ganze erreicht seinen Höhepunkt in einem Ratschlag für eine Ausatmungsübung, die viele Wirkungen haben mag, aber sicher nicht zum Entspannen geeignet ist: »Um die Übung zu steigern, beide Arme zur Hilfe nehmen und nach oben Richtung Decke strecken – eine wunderbare Dehnübung für lange Bürotage!« (Artikel MDR).
Wer seine Arme die ganze Zeit nur nach oben streckt, bekommt schnell keine Luft mehr. Das wussten schon die alten Römer: sie ließen die Menschen mit erhobenen Armen kreuzigen. Sie konnten dann nicht mehr ausatmen und erstickten qualvoll. Anatomisch ist die Kreuzigung nicht schwer zu erklären. Der große Brustmuskel ist an den Rippen festgewachsen und hat einen Ansatz am Oberarm. Wenn man den Arm von diesem Ansatz nach innen her bewegt, weitet sich die Lunge und unterstützt das Einatmen. Bei der Kreuzigung hat die Lunge keine Möglichkeit mehr, aus dieser aktivierenden Position in eine entspannende Ausatmung zurückzukehren: Das Körpergewicht und die zur Seite und nach oben gestreckten Arme verhindern die Bewegung des Brustmuskels. Der Verurteilte bekommt keine Luft mehr. Also Vorsicht vor allen Atemübungen, die sich nicht bewegen – sie könnten unerwünschte Nebenwirkungen haben.
Mit dem Becken atmen
Im Taiji atmen wir weniger mit der Brustmuskulatur als mit dem Becken. Oder genauer: Wir aktivieren indirekt das Zwerchfell über Bewegungen, die vom Becken ausgehen. Das Zwerchfell können wir natürlich nicht wahrnehmen. Es fehlen die Nervenverbindungen und deswegen haben wir keinen direkten Zugang und kein Bewusstsein von seiner Aktivität.
Was können wir also für das Zwerchfell machen? Zunächst müssen wir die richtige Haltung einnehmen, damit es sich frei bewegen kann. Wir müssen den Rücken rund machen und dürfen auf keinem Fall die Schultern zurücknehmen wie bei der Kreuzigung oder den Atemübungen des MDR. Damit öffnen wir die Lungen und lassen dem Atem Raum, sodass er frei fließen kann. Im Sitzen geschieht das im sogenanngen ›Kutschersitz‹.
Die effektivste Art der Bewegung, die das Zwerchfell aktiviert, hat seinen Ursprung im Bereich des Beckens – in der Lendenwirbelsäule, um genau zu sein. Das ist der tiefste Atem, der wahre Atem im Taiji.
Dort befindet sich ein wichtiges Energiezentrum des Körpers, das die Chinesen das ›Lebenstor‹ nannten.
In diesem unteren Rückenbereich, der auf dem Bild zu sehen ist, sind die Ausläufer des Zwerchfells an der Wirbelsäule angewachsen (vgl. auch das folgende Bild). Diese Pfeiler oder Schenkel haben in der Gastronomie den schönen Namen ›Nierenzapfen‹.
Bewegungen der Lendenwirbelsäule oder Bewegungen des Beckens ziehen an diesen Schenkeln und spannen das Zwerchfell an oder lösen es. Das Taiji trainiert mit den Bewegungen des Lebenstors also tatsächlich die direkte Atemmuskulatur des Zwerchfells und nimmt nicht die Hilfsmuskulatur im Bauch zur Hilfe, wie sie normalerweise verwendet wird, wenn Atemtechniken gelehrt werden. Diese indirekte Technik, wenn man sozusagen vom Körper geatmet wird, eröffnet erst den Zugang zur direkten Atemmuskulatur.
So zu atmen, ist für den Körper natürlich erst einmal neu. Und wie alles Neue braucht es Gewöhnung und Übung, um diese weitaus effektivere Art des Atmens zu lernen. Aber der Lohn ist die Mühe wert. Über die Atmung mit dem Lebenstor entdecken wir das, was die Chinesen den ›wahren Atem‹ genannt hatten. Er ist zugleich anregend und entspannend, gleichermaßen meditativ und aktiv. Einen Einstieg in die Lehre vom wahren Atem bietet das von mir entwickelte Lebenstor-Qigong (Frieder Anders, Das Qi verwurzeln, 2020). Atmen Sie durch und kreuzigen Sie Ihr Zwerchfell nicht!