Chen Weiming schrieb 1928: »Viele üben heute Taiji, aber es nicht das wahre Taiji. […] Mit wahrem Taiji ist dein Arm wie Eisen, umwickelt mit Baumwolle. Er ist sehr weich und fühlt sich doch schwer an für jemanden, der ihn zu heben versucht. […] Wenn du den Gegner berührst, sind deine Hände weich und leicht, aber er kann sie nicht loswerden. Dein Angriff ist wie eine Kugel, die glatt etwas durchschlägt (gān cuì) – ohne Zuhilfenahme von ‹schwerfälliger Kraft›. Wenn er zehn Fuß weggestoßen wird, fühlt er ein wenig Bewegung, aber keine Kraft.
Und er empfindet keinen Schmerz. […] Wenn du (schwerfällige) Kraft einsetzt, kannst du ihn vielleicht bewegen, aber es ist nicht gān cuì. Wenn er versucht, (schwerfällige) Kraft einzusetzen, um dich zu kontrollieren oder dich wegzustoßen, ist es, als wollte er den Wind oder die Schatten fangen. Überall ist Leere […] wahres Taiji ist wirklich wunderbar.«
Dieser Text ist heute so aktuell wie damals.
Chen Weiming (1881–1958), war eine der wichtigsten Persönlichkeiten für die Entwicklung des Taiji in der ersten Hälfte des 20. Jh. Er war Gelehrter und Schriftsteller und hatte vor Taiji bei Yang Chengfu auch Xingyi und Bagua praktiziert. Er verbreitete das Wissen von Yang Chengfu in drei Büchern von 1925–1929. 1925 gründete er in Shanghai seine Schule der sanften Kampfkunst (Zhi-Rou Quan She), wo auch Yang Chengfu seit 1928 lehrte, den er auch nach Südchina brachte.
Das »wahre Taiji« (oder Tai Chi), die innere Kraft, das ist es, was viele Schülerinnen und Schüler bei Meister Chu gesucht haben oder noch suchen. Ob sie sie auch gefunden haben, steht auf einem anderen Blatt, auf dem die inzwischen doch recht zahlreichen Namen derer sind, die die Suche bei ihm aufgegeben haben. Nicht, weil er nicht über die innere Kraft verfügte – jede/r hatte seine persönlichen Gründe, ihn als Lehrer zu verlassen, wie ich 2005.
Um die geht es mir aber nicht, sondern um den Hauptgrund, der, unbewusst, bei der Trennung bestimmt eine Rolle gespielt hat – der individuelle Atemtyp.
Meister Chu, bei dem ich 26 Jahre lernte und ihm half, die ITCCA aufzubauen, ist ein lunarer Einatmer. Sein Lehrer, Meister Yang Shouzhong, den ich Anfang der 1980er-Jahre kennenlernen konnte, war solarer Ausatmer.
Ein Grund für die Trennung von ihm liegt m.E. darin, dass die, die gegangen sind, den ›falschen‹ Atemtyp haben; falsch deswegen, weil Meister Chu alle nach seinem eigenen Atemtyp unterrichtet und die Unterschiede der Atemtypen nicht berücksichtigt, weil das in China nicht getan wird.
Mit anderen Worten: solare Ausatmer haben bei ihm schlechte Karten, weil sie alle über seinen ›lunaren Kamm‹ geschoren werden. Das merkt ein Ausatmertyp natürlich, dass da etwas »nicht stimmt« – auch wenn er den wahren Grund nicht kennt.
Was aber tun, wenn Meister Chu als Lehrer ausfällt? Klar – einen anderen suchen, es sei denn, man hätte es nicht mehr nötig und käme allein zurecht.
In der Vergangenheit geschah es häufiger, dass Schüler von Meister Chu zu anderen Lehrern wechselten: offenbar fanden sie, als unerkannte Ausatmer, einen (unerkannten) Ausatmerlehrer, wo alles besser ›passte‹: statt der kerzengeraden Aufrichtung nach dem Vorbild von Meister Chu plötzlich die Möglichkeit, leicht nach vorn geneigt zu praktizieren - das war endlich das Richtige! Nur leider geschah die Trennung mit unschöner Begleitmusik: auf einmal war der Unterricht von Meister Chu nichts mehr wert, was laut verkündet wurde.
Es standen – und stehen – die beiden anderen Meisterschüler von Meister Yang Shouzhong (1910–1985) und deren Schüler als passendere Möglichkeiten bereit: sowohl Chu Ginsoon (1933–2019) wie auch Ip Taitak (1929–2004) waren Ausatmer und praktizierten mit schräger Körperhaltung.
Aber nochmals schade, dass das, was für einen selbst passte, als allgemeingültige Wahrheit verkündet wurde: jetzt sollte beispielsweise der Snake Style, so genannt von Bob Boyd (verstorben 2024), einem Meisterschüler des Ip Taitak, eine Variante von und für Ausatmer, für alle das Richtige sein.
Es ist verwunderlich, dass die Lehre von den Atemtypen noch nicht bekannter ist – gerade im Taiji, wo es darum geht, die Schüler so zu führen, dass sie zu sich selbst finden können.
Und im Taiji gibt es, was einzigartig ist, mit der Entwicklung der inneren Kraft ein Kriterium, das als Maßstab der eigenen spirituellen Entwicklung, die dem egohaften Handeln entgegensteht, dienen kann. Und das ist doch, wie ich annehme, für uns alle das Ziel im Taiji.
Denn Handeln im fremden Atemtyp braucht das Ego zum Erfolg und verhindert den Weg zu sich selbst.
Ich selbst vereinige das Beste der Yang-Tradition in meiner Lehrtätigkeit, weil ich beide Atemtypen berücksichtige, sowohl das Einatmer-Erbe von Meister Chu, wie auch das Ausatmer-Erbe von Yang Shouzhong und seinem Vater Yang Chengfu.
Das mag vermessen klingen, entspricht aber den Tatsachen.
Das, was mich in den nunmehr 51 Jahren meiner Tai-Chi-Praxis antrieb, war die Suche nach der inneren Kraft – auch wenn mir das am Anfang nicht bewusst war. Die Grundlagen verdanke ich den 26 Jahren bei Meister Chu, die Weiterentwicklung seit 2005 bis heute meinen Entdeckungen, die auch, hinsichtlich des Atems, von meinen Erfahrungen als Konzertsänger angeregt wurden – und dem Feedback der Ausatmer unter meinen Schülerinnen und Schüler; ohne sie wäre es graue Theorie geblieben.
Jetzt ist das Projekt Atemtyp Tai Chi ausgereift, mit dem Ergebnis von Lernvideos, die ich Euch nahebringen möchte.
Den ersten Abschnitt meiner Lernvideos, die Langform und eine von mir entwickelte Kurzform gibt es seit kurzem auf
https://online.tai-chi.academy/
Der nächste Schritt sind die ›6 principle‹s (Vertiefungsstufen), die ich hoffe, im Januar 2025 veröffentlichen zu können; immerhin ca. 14 Stunden Videos.
Vor kurzem bin ich 80 geworden und habe die administrativen Aufgaben der Taijiakademie abgegeben. Jetzt kann mich voll darauf konzentrieren, meine Kenntnisse weiterzugeben.
Wenn Ihr davon Gebrauch machen möchtet, würde ich mich freuen!
Frieder Anders
PS: Als ersten Überblick empfehle ich den Artikel unter https://www.taijiakademie.de/atemtyptaiji, den ich bereits 2008 geschrieben habe.