Hallo, ich bin Frieder Anders, Tai-Chi-Großmeister der Yang-Familientradition, Jahrgang 1944, übe Tai Chi und Qigong seit 1973 und unterrichte seit 50 Jahren.
Heute spiele ich ein bisschen mit meinem Namen: Taichianders.
Warum Tai Chi anders?
Einmal natürlich, weil das mein Name ist, und dann aber, weil ich das Tai Chi anders mache, als es üblicherweise verstanden und praktiziert wird.
Ich habe es 1973 in einer dreiwöchigen Einführung in einem Meditationszentrum im Schwarzwald kennengerlernt, bei einem Deutschen, der Tai Chi in China übte und in dem Zentrum zufällig zu Besuch war (ich war eigentlich wegen ZEN dort). Danach habe ich etwa ein Jahr lang nach einem amerikanischen Lehrbuch gelernt, bin dann auf der Suche nach einem Meister nach New York, London und Taipeh gereist – in Deutschland gab es damals keine Lehrer/innen, geschweige denn Meister. Alles, was ich kennenlernte und übte, waren Varianten des Yang-Stils (der Name hat nichts mit Yin und Yang zu tun, sondern ist der Name der Familie, die diesen Stil entwickelt und gepflegt hat). Ich kann also sagen, dass ich einiges ausprobiert habe, bis ich die Variante fand, die ich bis heute übe und unterrichte.
Das war 1979 in London bei Meister K.H.Chu: der Yang-Familienstil, den ich 26 Jahre von ihm erlernte; 2002 wurde ich von ihm als erster Europäer als Meister anerkannt.
2005 trennten sich unsere Wege, weil ich inzwischen in meiner Gesangsausbildung erfahren hatte, dass es zwei Atemtypen gibt:
Einatmer, die ihre Kraft beim Einatmen gewinnen, und Ausatmer, die sie beim Ausatmen generieren. Der Atemtyp wird im Moment der Geburt bestimmt: der Einfluss von Sonne oder Mond entscheidet, welcher Atemtyp geprägt wird, der dann lebenslang besteht, aber leider überfornt werden kann. Ich hatte Glück, dass mein Atemtyp (lunarer Einatmer) dem von Meister Chu entsprach, was aber nie ein Thema zwischen uns war, weil in China diese Unterscheidung nicht gemacht wird. Diese Erfahrung brachte ich in meine Arbeit ein und wendete so die (Einatmer)-Tai Chi-Variante von Meister Chu in ihre Fassung für solare Ausatmer, die eigentlich den Yang-Familienstil in der Nachfolge von Yang Chengfu, dem vielleicht bekanntesten Meister im 20. Jh. in China, mehr geprägt hat als die Einatmer-Variante.
Ich habe die Atemtypen also nicht erfunden, wohl aber die Arbeit über inzwischen 20 Jahre geleistet, zu untersuchen, wie sich die Atemtypen im Tai Chi zeigen, wie sie Körperhaltung- und Bewegungen prägen. Weil es dieses Konzept in China nicht gibt, die Unterschiede zwischen den Atemtypen aber sehr wohl existieren, war es manchmal schwer, gegen (verständliches) Unwissen und Vorurteile (›alles esoterischer Quatsch‹ oder ›gibt's in China nicht‹) weiterzumachen. Eine junge Chinesin, die vor Jahren in die Akademie kam, hinterließ einen Kommentar im Internet, wie falsch das sei, was ich da machte, man bräuchte sich zum Vergleich ja nur die Fotos von Yang Chengfu anschauen. Gut gebrüllt, Löwin, aber eben aus dem Unwissen heraus, dass Yang Chengfu ein Ausatmer war und ich eben ein Einatmer bin.
Aber ich war ja nicht allein auf weiter Flur, sondern fand Unterstützung und Anerkennung bei den Schülerinnen und Schülern meiner Taiji Akademie in Frankfurt, die ich 1980 gegründet hatte – sie folgen mir seit 2005 im Alleinstellungsmerkmal ›Atemtyp‹. Im Lauf der Jahre haben etliche meiner Lehrerschülerinnen und -schüler begonnen zu unterrichten und tragen unsere gemeinsamen Erkenntnisse weiter.
Ich habe also das Tai Chi der Yang-Familientradition quasi ›freigelegt‹, weil es darin (unerkannt) beide Atemtypen gab; die Unterschiede in der Körperhaltung wurden in China halt auf individuelle Vorlieben oder auf das Vorbild des Meisters zurückgeführt: darüber ließ sich trefflich streiten.
Was mich von anderen Lehrern und Meistern unterscheidet, ist die Vorgabe, dass zu Beginn des Unterrichts der Atemtyp bestimmt wird, und dass ich nicht meinen eigenen Stil als Maßstab für alle Schüler/innen verabsolutiere, dem sie zu folgen haben – wie es leider üblich ist. »Cosí fan tutte« – »so machen es alle« (Lehrer(/innen), um es mit Mozart zu sagen.
Ich mache Tai Chi also ›anders‹, habe das, was ich erlernt habe, ›gewendet‹, wie einen Mantel, den man von beiden Seiten tragen kann und dabei die Geheimnisse entschlüsselt, von denen in den Schriften des 19. Jhs. berichtet wird, vor allem in den ›Tai Chi-Klassikern‹, als Tai Chi die berühmteste Kampfkunst in China war,
Da kommt nun endlich, am Ende meiner Ausführungen, das Thema ›Kampfkunst‹ und innerer Kraft ins Spiel. Innere Kraft ist eine Kraft, die es ermöglicht, einen Angreifer zu entwurzeln ohne ihn zu verletzen. Dafür war Tai Chi im China des 19. Jhs. als Kampfkunst berühmt, eben weil die Meister die Fähigkeit besaßen, zu siegen, ohne zu kämpfen.
Nicht jeder möchte Tai Chi als Kampfkunst betreiben, sondern vor allem Tai Chi erlernen, um die Möglichkeiten der eigenen Entfaltung zu erweitern. Aber auch dafür ist der Maßstab die innere Kraft: wird sie entwickelt oder nicht? Denn innere Kraft bedeutet nicht nur die Befähigung zum »Siegen ohne zu kämpfen«, sondern gibt auch Antwort auf die Frage: Wie sind die Bewegungen und die Körperhaltung passend für mich? So, dass ich mich und mein Wohlbefinden im Einatmen oder im Ausatmen finde?
Übt man Tai Chi im eigenen Atemtyp, erschließt sich der Zugang zur Galaxie des Tai Chi, wie es Laura Huxley, eine amerikanische Musikerin, Autorin, Psychotherapeutin und Dozentin, die von 1956 bis zu seinem Tod 1963 mit dem Autor Aldous Huxley verheiratet war, ausdrückt:
»Ein Planet ist nur ein kleiner Teil einer Galaxie, aber er ist in sich selbst vollständig. Tai Chi Chuan ist eine vollständige Übung, aber es ist nur ein Teil seiner Galaxie aus psychologischen, philosophischen, metaphysischen und anderen Aspekten. Wenn man eine Gruppe von Menschen fragen würde: Was ist Tai Chi Chuan? Dann hätte jeder Recht mit seiner Antwort: Es ist ein System aus: Gymnastik – Philosophie – Verjüngung – Atmung – Symbolik – Selbstverteidigung – Veränderung des Körperbildes – Willenstraining – Therapie – Tanz – Meditation – Bewusstseinserweiterung – Energieausgleich – und vielem mehr«.
Alle, die mehr wissen möchten: auf online.tai-chi.academy gibt es Lernvideos, die ich mit fortgeschrittenen Lehrerschülern seit 2020 produziert habe.
