›Das Nichttun tun‹, chinesisch wei wu wei – dieses Thema durchzieht die Praxis des Taijiquan. Es bedeutet nicht ›Nichtstun‹, sondern im Gegenteil eine Aktivität in äußerster Wachsamkeit, die sich nach einem Moment des Innehaltens entfaltet. Sie ist das Gegenteil des reflexhaften, als spontan missverstandenen Handelns.
In seinem erhellenden Vortrag Anfang November in der Taiji Akademie hat Sven Joachim Haack dieses Thema aus der Sicht der abendländischen Kontemplationspraxis behandelt: Wenn Praktizierende der Kontemplation oder der Meditation eine Erfahrung machen, die ihnen zeigt, dass sie auf ihrem Weg ein Stück weitergekommen sind, dürfen sie nicht an dieser Erfahrung festzuhalten und ihre Wiederholung suchen, weil sie dies davon abhielte, weiter voranzuschreiten. ›Nicht das Tun, sondern das Lassen ist der Weg‹ war das Thema dieses Vortrags.
Ich fühlte mich dabei an einen Punkt in meiner Entwicklung während meiner Gesangsausbildung erinnert. Meine Voraussetzungen waren denkbar schlecht, ich hatte nicht das, was man eine ›schöne Stimme‹ nennt – eine ›Naturstimme‹, bei der einem jeder sagt, dass der Sängerberuf der einzig richtige für einen sei. Eigentlich konnte ich bis Mitte dreißig nur schreien, also laut, aber nicht schön singen, und die Kommentare, die ich zu hören bekam, waren nicht gerade anspornend. Der witzigste war vielleicht: »Die Schwäne singen bevor sie sterben, bei manchen Menschen wünschte man, dass es umgekehrt wäre.« Nun ja, ich habe dann trotzdem mit neununddreißig meine Ausbildung begonnen und mein Ziel, richtig singen zu lernen, erreicht. Ob es schön ist? Das zu beurteilen sei den Zuhörern überlassen.
Während des Prozesses der Umwandlung von Geschrei in Gesang sagte meine Lehrerin, der ich viel verdanke, nach einer Unterrichtsstunde einmal zu mir, heute hätte ich einen richtigen Ton gesungen. Oha! Da mischen sich Freude und Enttäuschung (»was, so wenig!«) in der Reaktion – die Freude hat dann aber gesiegt –, und ich begann in der nächsten Zeit des Singens, diesen Ton zu suchen. Ich tat also etwas, beschwor meine Erinnerung, versuchte, ihn wiederzufinden – und fand ihn natürlich nicht, weil er längst entschwebt war, wie das Schwingungen so an sich haben. Ich musste ihn also vergessen, anstatt zu versuchen, ihn wiederzufinden. Also war das (Los-)Lassen wichtiger als das (egohafte) Tun, das stolz auf einmal Erreichtes ist, das musste ich mühsam lernen. Und immer weiter suchen … und, ach ja, durch diese Suche wurden mir immer mehr richtige Töne geschenkt.
Dieses Einsein von Tun und Lassen ist auch die Maxime beim Taijiquan. Bei einer Partnerübung, einem ›Test‹ der Inneren Kraft, müssen wir unseren reflexhaften Impuls, den anderen abzuwehren oder zu besiegen – ihn uns ›vom Leib zu halten‹ – zulassen, erkennen, aber zurückhalten, und dann den Impuls, der übrigbleibt, als Kern der Inneren Kraft nutzen und die Bewegung, um die es geht, ausführen, ohne willkürliche Muskelkraft einzusetzen. Denn an der willkürlichen Muskelkraft ›hängen‹ alle unguten d.h. unreflektierten Aktionen, mit der in ihnen lauernden Möglichkeit, den anderen zu zerstören. Und die muss durch ein Veto des eigenen Geistes ›entschärft‹ werden.
Dies ist die ethische Dimension des Taiji, nicht, wie es in den sozialen Netzwerken gang und gäbe ist, sofort und unreflektiert – eben pseudo-spontan – zu reagieren und auf den anderen einzuschlagen, sondern diesen Impuls zu erkennen, ihn zu stoppen – aber nicht zu verdrängen – und aus der Erkenntnis dessen, was das eigene ›naturwüchsige‹ Verhalten (das ja so recht hat!) von einem fordern möchte, eine Handlung abzuleiten und auf einer höheren Ebene zu vollziehen. Und das Beste daran: diese Handlung tut mehr für den eigenen Schutz als das unreflektierte Zurückschlagen, weil es den anderen ›entwaffnet‹, indem es ihm keinen Ansatzpunkt für eigene Aggressivität gibt.
Beim Test der Inneren Kraft im Taiji vollzieht sich dieser Wandel in Sekundenbruchteilen und wird als spontan und befreiend erlebt. (Die andere Interpretation, die das wei wu wei in der gängigen Taiji-Praxis als ›Nichtstun‹ missversteht und sozusagen pazifistisch agiert, also die eigene Aggressivität leugnet, ist – nun ja … ein Missverständnis.)
Durch Taiji wird man also kein ›besserer Mensch‹ im Sinne von »edel, hilfreich und gut« (ein ›Sich-Ändern-Wollen‹ das dies anstrebt, bedeutet oft nur das Verdrängen der eigenen Aggressivität), aber man kann lernen, das eigene potenziell verletzende oder destruktive Verhalten anderen gegenüber in Handlungen zu transformieren, die ihren Kern, den Impuls der Selbstverteidigung, bewahren und damit konstruktiv sind, heilsam für mich selbst und den anderen.
Ist das eine Weihnachtsbotschaft? Ich denke schon. In diesem Sinne:
Schöne Weihnachten!