Taijiquan ist ein inneres System (der Kampfkunst):
Wenn die Bewegungen richtig ausgeführt und die Prinzipien verstanden werden,
dann ist dies Taijiquan.
Dong Yingjie (1898–1961), Yang-Stil-Meister der 4. Generation
Faktisches Taiji in postfaktischer Zeit
„Das Wort des Jahres 2016 ist postfaktisch.
Diese Entscheidung traf am Mittwoch, 7.12.16 eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden.
Sie richtet damit das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel.
Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht.
Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« führt im »postfaktischen Zeitalter« zum Erfolg.“
http://gfds.de/wort-des-jahres-2016
Um es gleich klar zu sagen: Für mich ist Taiji faktisch, nicht „postfaktisch“.
Es geht in erster Linie darum, objektiv vorgegebene Bewegungen zu erlernen.
Doch könnte es auch „postfaktisches“ Taiji geben? Wie sähe das aus?
Über dieser Frage kommt mir eine Erinnerung: Vor vielleicht 20 Jahren, noch in meiner Zeit bei Meister Chu, unterrichtete ein junger Lehrer in meiner Schule den ersten Teil der Form.
Da wir in Wertschätzung und Sympathie verbunden waren, checkte ich seinen Unterricht nicht, sondern vertraute ihm einfach. Gegen Kursende kam ich in den Übungsraum und sah die Teilnehmenden kreuz und quer im Raum verteilt stehen, ganz mit sich beschäftigt.
Der Lehrer stand irgendwie dabei, ohne zu führen. Als ich meinen Schrecken überwunden hatte, fragte ich ihn nach seiner Absicht und erfuhr: Er wollte die Teilnehmenden das fühlen machen, was er selbst beim Taiji-Üben empfand. Uff. Das nenne ich postfaktisch: die Anmaßung einer Person, ihre eigenen Empfindungen und Gefühle zum Maßstab für andere zu machen, führt beim Unterrichten ebenso in die Irre wie in der Politik.
Mein Standpunkt ist ein anderer: Der Lehrer sollte objektive Fakten vermitteln; die individuelle Gefühlsebene ist nachgeordnet. Da wir uns nicht einig wurden, endete unsere Zusammenarbeit an dieser Stelle.
Er bleibt nun bei seinen Leisten (in der Finanzbranche), wofür ich ihm Talent zuspreche und den Erfolg gönne, seine Fähigkeiten dort fruchtbringend einzusetzen.
Taiji, wie es bei uns praktiziert und unterrichtet wird, ist faktisch, nicht „postfaktisch“.
Zwar greifen die erlernten Bewegungen sanft, aber tief in die persönlichen, auch psychischen Strukturen des Lernenden ein: Die Selbstwahrnehmung verändert sich, neue Bereiche des Innenlebens werden entdeckt, Gefühle von Zustimmung und Abwehr wechseln sich ab.
Dennoch ist im Taiji diese Gefühlsebene nachgeordnet, weil sie individuell verschieden ist.
Der Lehrer sollte die Bewegungen objektiv – „faktisch“ – vermitteln und somit die individuellen Erfahrungen ermöglichen, aber diese nicht manipulieren. Natürlich kann man sich darüber austauschen; sie bleiben aber subjektiv. Das zeigen die gemeinsamen Anstrengungen in der Gruppe sowie der „praktische Austausch“ in den Partnerübungen zum Testen der Inneren Kraft. Auf dieser Ebene kann die Subjektivität der eigenen Erfahrungen übrigens am besten kommuniziert werden kann. Es muss nichts zerredet werden.
(Objektiv oder eben „faktisch“ bedeutet allerdings nicht, die Bewegungen nur nachzuahmen und das individuelle „Spürbewusstseins“ zu vernachlässigen. Nein, das Spüren ist und bleibt zentral – es wird nur eben nicht in „postfaktischer“ Manier verordnet oder verallgemeinert.) Taiji „richtig“ zu machen, bedeutet also, Bewegungen im Einklang mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unseres Erdendaseins auszuführen und dabei im Fühlen die eigene Wahrheit zu finden. Aus dem Vorwort zu meinem Buch „Das innere Taiji“ 2011:
„Taiji oder Taijiquan ist ein ganzheitlicher Weg zu sich selbst. Es ist Körpertherapie, weil es einen lehrt, die eigene Haltung und Bewegung zu verbessern und dadurch Krankheiten und Beschwerden, die durch »Fehlhaltung« bedingt sind, zu lindern und zu heilen. Es ist »Energiearbeit«, weil seine Bewegungen den Fluss der inneren Energie Qi freilegen und aktivieren. Es ist praktizierte Spiritualität, weil es die eigene Individualität vom Ich zum Selbst durch die Erfahrung erweitert, Bestandteil des Kosmos zu sein.
Es ist ein Weg der Selbstbehauptung, die nicht auf Kosten anderer realisiert wird, sondern mit der Entwicklung eines »Spürbewusstseins « einhergeht, das gleichermaßen Eigenes und Fremdes zu unterscheiden und anzuerkennen lernt.
Es ist ein Weg zur inneren Kraft, die die eigene Aggressivität transformiert und umwandelt in eine reale Kraft, die ohne willkürliche Muskelanspannung und Einsatz des Körpergewichts andere abwehren kann, ohne sie verletzen zu müssen. Es ist ein Weg, ein »energetischer Mensch« zu werden.
Peter Schellenbaum bringt es auf den Punkt: (aus „Die Wunde der Ungeliebten“)
»Der energetische Mensch empfindet kein Bedürfnis, sich Menschen und Dingen aufzuzwingen und einzuprägen.
Er lebt aus dem erregenden Gefühl, dass Menschen und Dinge auf ihn zukommen und ihn in das Abenteuer der Erfahrung verwickeln« (Sloterdijk). Er liefert sich nicht aus, sondern lässt geschehen. Er stimmt dem zu, was sich ereignet. Er weiß, dass es unmöglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen (Heraklit), und hält sich frei und verfügbar. Er kommt dem schläfrigen Widerstand zuvor und ist von entspannter Wachheit.
Weil er Menschen nicht festhält, gedeihen seine Beziehungen. Weil er nichts erreichen will, gelingt ihm vieles.
Er zielt nicht darauf ab, eine originelle Persönlichkeit zu sein; vielmehr liegt ihm an Verständigung und Beziehung.
Und doch prägt sich gerade in ihm das Leben auf eigentümliche Art aus.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein wahrhaftiges Neues Jahr mit „faktischem“ Taiji und dem Vertrauen in das eigene Spürbewusstsein.