Seltsame Überschrift, könnten Sie jetzt denken. Stimmt. Ich meine aber nicht die Ringe, die sich Menschen als Teil ihres Piercings antun, sondern die, die man Wasserbüffeln in Asien durch die Nase zieht, um sie dann leicht mit einer daran befestigten Schnur bewegen zu können. Das gibt es auch in Europa: dort wird er in Italien, Rumänien und Bulgarien in größerem Stil gezüchtet, und seit 2014 gibt es auch einige Tiere im Vogelsberg, die aus der ›italienischen Linie‹ stammen.
Es gibt im Taijiquan ein bekanntes Beispiel für den Einsatz der Inneren Kraft: »Mit 4 Unzen (ca. 100 Gramm) tausend Pfund besiegen« mit dem dazugehörigen Bild, dass ein Knabe einen Wasserbüffel nach Belieben bewegen kann, weil er ihn durch eine Schnur mit 4 Unzen Gewicht an seinem Nasenring kontrolliert. In der Tat, dazu braucht es keine Kraft, weil die Nase der schwache Punkt ist. Und: es wird dem Tier kein Schmerz zugefügt, weil sich offenbar eine starke Hornhaut gebildet hat, die ihn, sensibel, aber schmerzfrei, auf den Zug reagieren lässt.
Diesen Schwachpunkt beim Partner in den Taiji-Partnerübungen zu finden oder zu provozieren – das ist ihre einzigartige Besonderheit, auch von Taiji als Kampfkunst. Einzigartig deswegen, weil es die Entwicklung einer besonderen Sensibilität bedarf, den Schwachpunkt beim anderen herauszufinden oder ihn eben dazu zu bringen, sich diese Blöße zu geben. Und weiterhin einzigartig, weil es beim Einsatz der eigenen Kraft wirklich kaum mehr als 100 Gramm braucht, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen – zu ›entwurzeln‹ – ohne ihm Schmerz zuzufügen oder gar ihn zu verletzen.
Das Leben ist voller Versuchungen und Gelegenheiten, den anderen zu besiegen, indem man absichtlich auf dessen ›wunde Punkte‹ abzielt und mit mehr oder weniger Aggressivität oder gar Lust hineinsticht, um ihn körperlich oder seelisch zu verletzen und als Sieger vom Platz zu gehen. Außer, dass ein solcher Sieg moralisch fragwürdig ist, ist er jedoch auch strategisch unklug: Denn der Verletzte wird sich höchstwahrscheinlich rächen wollen, entweder am Gegner selbst oder sich ein unschuldiges Opfer suchen, über das er dann triumphieren kann. Und die Gewaltspirale dreht sich weiter und schaukelt sich hoch …
Der Sieg im Taiji zielt weder auf Verletzung – und damit Demütigung – oder Vernichtung des anderen, sondern zeigt ihm die Grenzen auf, die er mit seinem aggressiven Angriff überschritten hat: er wird in seine Schranken gewiesen. Diese Fähigkeit, den ›Nasenring‹ beim anderen zu finden und die eigene Aktivität dort anzusetzen, erfordert jahrelange Übung und ist ein Weg zu sich selbst, der über die Erfahrung der eigenen Aggressivität und Destruktivität führt und deren Transformation in Innere Kraft zum Ziel hat. Ja, er braucht seine Zeit – aber welcher Weg zu sich selbst, der über bloße Selbsterfahrung hinausgeht, ist schon kurz?
Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien beschreibt diese Fähigkeit als Eigenschaft des chinesischen Denkens und der Strategie (wahrscheinlich ohne Taiji zu kennen):
»Der chinesische Stratege vermutet nicht, argumentiert nicht und konstruiert nicht. Er stellt keine Hypothesen auf und macht keine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Seine ganze Kunst besteht vielmehr darin, so früh wie möglich die geringsten Tendenzen aufzuspüren, die sich zu entfalten beginnen ... Die gesamte Strategie gegenüber dem anderen ließe sich in diesem doppelten Manöver zusammenfassen: dem Gegner nicht den geringsten Riss bieten, so dass er keinen Einfluss auf uns bekommt und dazu verurteilt ist, an uns abzugleiten, anstatt in uns einzudringen; gleichzeitig nach dem winzigsten Rissigwerden bei ihm forschen, damit dieses, indem es sich immer mehr zur Bresche öffnet, es schließlich erlaubt, ihn ohne Gefahr anzugreifen.« (François Jullien, Über die Wirksamkeit, Merve Verlag 1999). Die höchste Kunst besteht danach darin zu siegen, ohne zu kämpfen, wie es im 5. Jh. v.u.Z. der chinesische Philosoph und General Sunzi in seinem Werk ›Die Kunst des Krieges‹ beschrieben hat. (http://www.taijiakademie.de/taiji-fuer-entscheider.html)
Hoffen wir, dass in dieser verrückten Zeit, wo jeder den anderen nicht zur eigenen Verteidigung am Nasenring lenken möchte, sondern ihm mindestens die Nase abreißen will, diese Gedanken verbreitet und berücksichtigt werden.